Die fünf Dimensionen der SYSTHAT-Pentalogik/Teil 2: Wohin gehen wir – unsere Zukunft?
Im Teil 1 der fünfteiligen SYSTHAT-Pentalogik haben wir uns mit der Frage „Woher kommen wir?“ und damit mit der Historie von sozial-komplexen Systemen auseinandergesetzt. Das Verständnis hinsichtlich dieser Dimension ist elementar, denn es prägt alle sozial-komplexen Systemen – vom Menschen als kleinstes über Organisationen bis hin zur Gesellschaft als größtes sozial-komplexes System. Unsere DNA und unsere Wurzeln können wir (Stand heute) nicht verändern, und in Krisensituationen greifen immer unsere „Urprogramme des Stammhirns“, die damit unser Verhalten steuern. Wir sehen das aktuell an den weltweiten Transformationsbereichen und unserer aktuellen Pandemie. Da möchte man sich manchmal an den Kopf greifen und fragen: „Denkt denn Niemand mehr logisch – was um Himmels willen treibt die Menschen oder Organisationen an?“ Antwort: Das Stammhirn.“ Und wohin soll das alles noch führen?“ Das ist eine berechtigte Frage.
Eine bekannte Formulierung „Woher kommen wir, wohin gehen wir?“ skizziert sehr schön die Achse der beiden Dimensionen Historie und Zukunft. Während die Dimension Historie festgesetzt und unveränderbar ist, kann die gegensätzliche Dimension Zukunft derzeit wohl als die volatilste Dimension beschrieben werden. So besingt schon 1991 der österreichische Musiker Reinhard Fendrich mit „Alles ist möglich, aber nix ist fix“ ganz bezeichnend die Grunddynamik der Dimension „Zukunft“, die sich wohl im Moment von ihrer vielfältigsten Seite seit langem zeigt…
Zukunft. Eine auf die Gegenwart folgende Zeit, die noch kommt. Wenn man sich mit der ursprünglichen Herkunft des Wortes befasst, so wird bereits in der Bibel von der Ankunft (des Herren), also abgeleitet von Etwas, das nach der momentanen Gegenwart kommen wird, gesprochen. Damit ist das, was gestern war, bereits Vergangenheit. Heute ist unsere Gegenwart, und bereits morgen fängt die Zukunft an. Das mag im Moment sehr lapidar und plakativ scheinen, aber hier beginnt bereits das erste Problemfeld der Dimension Zukunft.
Chronos und Kairos. Die Zeit und die Zeit. Es gibt vermutlich kaum eine Sache die vielfältiger betrachtet, gefühlt und interpretiert werden kann, als die Zeit. So könnte man meinen, die Zeit sei immer gleich, denn z.B. eine Minute ist eben exakt messbar mittels Chronometer genau eine Minute, und damit weltweit für Jeden gleich lange. Das ist absolut richtig. Aber haben Sie schon mal versucht, eine Minute lang die Luft anzuhalten? Oder denken Sie daran, wenn Sie eine Minute lang im Freien ohne Schirm im strömenden Regen stehen müssen? Oder Sie haben nur mehr eine Minute, bis der Zug aus der Station rollt, und Sie laufen vielleicht gerade beim Bahnhof ein? Da ist eben eine Minute gefühlt etwas komplett Unterschiedliches. Wir sprechen von Kairos, der sinngemäßen Bedeutung nach vom „günstigen Zeitpunkt (für eine Entscheidung)“ oder einem flüchtigen und alles entscheidenden Augenblick, den es zu nutzen gilt. Sprichwörtlich gesagt: „Die Gelegenheit am Schopf packen, oder den Moment verstreichen lassen!“
Wie lange ist eigentlich „lange“? Eltern wissen wohl, wie herausfordernd Kindern sein können, wenn diese Etwas nicht erwarten können. Zumindest meine Eltern konnten ein Lied davon singen. Gefühlte Zeitdimensionen sind eine der großen Herausforderungen in sozial-komplexen Systemen, sei es im Paar- oder Familiensystem, im Arbeitssystem oder in der Politik. Erstmals ist es schwierig, das persönliche Zeitempfinden und damit auch den Umgang mit der eigenen Zukunft besprechbar zu machen. Noch viel schwieriger ist es, diese unterschiedlichen Befindlichkeiten nutzenorientiert in Systemen unter einen Hut zu bekommen. Jede Person hat ein unterschiedliches Zeitempfinden, befindet sich auf einer unterschiedlichen Position entlang seiner Lebenszeitachse und darüber hinaus haben wir auch noch unterschiedlich lange persönliche Lebenszeitachsen, deren tatsächliche Länge wir erst post mortem kennen. Dieses Phänomen können wir auch weltweit gesellschaftlich gut betrachten, wenn man nur als ein omnipräsentes Beispiel die ökologischen Reformen betrachten möchte. Sehen ambitionierte Klimaschützer eine Deadline für ein Vorhaben bis 2030 als unsagbar lange an und für viel zu spät an, so betrachten Unternehmen hingegen diese Zeitspanne – ganz abgesehen davon, dass diese zumeist erst lange auf eine diesbezügliche Verordnung als Startschuss warten müssen – als viel zu kurz, um überhaupt mit der Planung und Umsetzung zu beginnen. Oftmals müssen Unternehmen ihre gesamten Prozesse bis hin zum eigentlichen Geschäftsmodell auf den Prüfstand stellen, dieses vielleicht sogar über Bord werfen oder überhaupt einmal eine Idee bekommen, wie diese Vorhaben realisiert werden können. Und Alle betrachten die gleiche Zeitspanne… Gleich ist eben nicht gleich, oder zumindest gefühlt nicht immer gleich!
Visionen, Missionen, Strategien und strategische Stoßrichtungen – alles nur Zukunftsphantasien? Wir Alle sprechen über „die Zukunft“, was auch immer jeder Einzelne damit verbindet. Fragen Eltern ihre Kinder z.B. im Alter von 13 Jahren, was diese beruflich in Zukunft machen möchten, haben viele Kinder keine Ahnung und auch keine Lust nachzudenken, welchem Beruf oder welcher Berufung man z.B. mit 18 Jahren erwerbsmäßig nachgehen möchte. Unternehmensinhabende müssten aber heute eine Vision haben, welchen Beitrag das Unternehmen 2040 gesellschaftlich leisten wird („I have a dream…“) bzw. welche Strategien man schon heute planen und aufgleisen muss, damit man z.B. ökologische Zielvorgaben realisieren kann. Jedenfalls muss bereits heute strategische Stoßrichtungen zur Umsetzung etabliert sowie 3-5 Jahrespläne budgetiert werden, um zumindest auf Sicht eine Steuerungslogik zu haben, wenn auch adaptiv. Wir sehen schon anhand dieses Beispiels die Crux mit dem Wort Zukunft. Fragen Sie einen schwerkranken Menschen mit einer sehr kurzen Lebenserwartung, was er/sie sich von seiner Zukunft erwartet, so kommt vielleicht ein ganz klares „meinen nächsten Geburtstag noch erleben zu dürfen“. Ein abgeklärtes Zukunftsbild.
Die Zukunft beginnt morgen. In meinem letzten Blog „Systhat-Pentalogik Teil 1“ habe ich bereits das in vielen Arbeitsorganisationen bekannte Zitat von Prof. Knut Bleicher genannt: „Wir arbeiten in Strukturen von gestern mit Methoden von heute an Problemen von morgen vorwiegend mit Menschen, die die Strukturen von gestern gebaut haben und das Morgen innerhalb der Organisation nicht mehr erleben werden.“ Die Herausforderung von heute ist zweifellos, wenn gerade in Transformationsphasen das „Morgen“ sehr unterschiedlich gesehen wird, und das „Gestern“ in Transformationsphasen verabschiedet werden muss. Da es meist schnell gehen muss, passiert das Alles mehr oder weniger „gefühlt von heute auf morgen“. Wir selbst wissen am besten, welche Ideen, Energien, Pläne und Tatkraft man entwickeln kann, wenn klar ist, wo in Veränderungsphasen die Reise hingeht, und wie konkret man sich die „schöne, neue Zukunft“ vorstellen kann. Genauso kennen wir Lebensphasen, wo wir eigentlich wissen, dass es so nicht weitergeht und es eine Richtungsänderung benötigt – aber in welche Richtung? Und wenn der Preis dafür noch das Loslassen von Liebgewonnenem ist, wird schnell klar: Wir verharren lieber in der Vergangenheit und Gegenwart, solange es irgendwie geht, als sich dem Risiko Zukunft zu stellen. Arbeitsorganisationen funktionieren genauso, jedoch durch die arbeitsteilige Zusammenarbeit vieler unterschiedlicher Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen ist das Thema „schöne, neue Zukunft“ noch deutlich komplexer zu sehen.
Wie wir die Zukunft per se sehen, liegt zumeist in unserem Inneren begründet. Wie wir temporär die Zukunft sehen, hängt stark von unserer Lebensphase ab, als auch von Treibern und Einflussfaktoren aus dem Umfeld, die uns gerade beeinflussen. Und dann spielt eben auch der Grad des geschätzten Veränderungsausmaßes eine Rolle, weshalb wir eben leicht damit umgehen, oder die Transformation sogar als (lebens)bedrohlich empfinden. Darüber hinaus beeinflusst die geschätzte Transformationsdauer und dem damit verbundenen „Durchhalten“ unsere Haltung, sowie die momentane Einschätzung über die dann für uns geschätzten Auswirkung dieser – also positiv, neutral im Sinne von ähnlich der Gegenwart, oder eben auch viel schlechter. Und mit dieser Haltung leben wir das Verhalten vor und während der Transformationsphase – oftmals ganz unbewusst.
Das große Ganze schon jetzt initiieren, oder lieber auf Sicht fahren? Es liegt in der Natur der Sache, dass manche Menschen grundsätzlich den Stehsatz „Das Leben ist Veränderung.“ automatisiert Leben, und stets nach Verbesserung und Neuem suchen. Das ist aber gleichwertig zu sehen mit Menschen, deren inneres Paradigma das Schätzen und Erhalten der Vergangenheit als Wurzel und Nährboden der Gegenwart ist. Wie können wir den Moment genießen und stolz sein auf das, was wir haben, wenn wir mit dem Tunnelblick stets Neuen und Künftigen nachjagen?
Der Philosophie folgend, „Wir können nicht für den vergangenen Moment atmen und auch nicht für den künftigen, sondern nur mit diesem Atemzug in diesem Augenblick!“ ist es richtig, dass das Bewahren und Aufrechterhalten der vielleicht noch schönen Gegenwart jedenfalls der Motor ist, um Kraft und Energie für das darüber hinaus notwendige Vorbereiten einer neuen lebenswerten Zukunft ist, denn das Vergangene ist eben vergangen. Natürlich sehen wir z.B. bei Mode, dass nichts „nie wieder kommt“, man immer wieder Modetrends vergangener Jahrzehnte wieder findet, deren Kleidungsstücke man vielleicht schon längst weggegeben hat, oder schwört, nie wieder zu tragen.
Umso verständlicher werden die aktuellen Dynamiken des gegenwärtigen Transformations-prozesses „digitale Revolution durch das Informations- und Kommunikationstechnologiezeitalter“ hinsichtlich hundertprozentigen Zuspruchs und totaler Ablehnung. Aufgrund der Komplexität ist es wohl Niemanden möglich, alle Auswirkungen dieser Transformation vollumfänglich richtig vorauszusagen, womit Unsicherheit bleibt. Umgekehrt wird derzeit Vielen bewusst, dass man sich dieser Entwicklung wohl nicht mehr gänzlich entziehen kann. Somit ist verständlich, dass Einige am liebsten mit „Augen zu und durch“ am besten gestern in die neue Zukunft transformiert werden wollten, andere mit angezogener Handbremse und massiven Widerstand in diese Nebelzone fahren, mit einem beharrlichen Gefühl, dass nach wenigen Metern wohl nicht die Sonne scheint, und am Weg dorthin viel passieren kann. Schließlich kennen Führerscheinbesitzer den Ausspruch „auf Sicht fahren“ sehr gut. Was ist jetzt die richtige Einstellung, um gut durch diese Nebelwand der Transformation zu kommen?
Auf den Hund gekommen. Lebensweisheiten. Hier möchte ich gerne das treffende Zitat von Albert Einstein nennen:
„Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“
Es entgeht den aufmerksamen LeserInnen natürlich nicht die elementare und im Zitat nicht genannte „Dimension der Gegenwart“ im Sinne des „Hier und Jetzt“. Wenn die Vergangenheit der Nährboden unserer Gegenwart ist, so ist wohl die Gegenwart der Nährboden der Zukunft – was auch immer Zukunft für Einzelne bedeutet. Daher ist es für Menschen, die aus welchen Gründen auch immer, wenig aus der Vergangenheit in die Zukunft transformieren müssen, z.B. weil sie noch Kinder sind, denkbar leichter, loszulassen und die mit viel größeren Chancen versehene Zukunft in Angriff zu nehmen, auch wenn das nach einem ganzen Stück Arbeit aussieht, und mit viel Ungewissheit versehen ist. Für andere Menschen ist das Ticket „Zukunft“ das bestmögliche Bewahren und so lange wie möglich Nutzen der Erträge aus der Vergangenheit und Gegenwart, das vielleicht einfach auch nur Überlebenssicherheit gibt. Damit gibt es in Transformationsphasen erwiesener Weise im Moment meist kein hundertprozentiges Richtig oder Falsch, denn Erfolgsgeschichten werden immer erst im Nachhinein geschrieben, also in der Zukunft. Es bedarf einem Verständnis der Zulässigkeit vieler persönlicher Ansichten. Und das ist ein großer Brocken Arbeit an einem selbst.
Vielmehr gilt es in Transformationsphasen auch den Spagat zu schaffen, zwischen „wie lange müssen wir das Bestehende bewahren und damit auch noch weiterentwickeln, um es notwendigerweise am Leben zu erhalten“, versus „wie können wir uns aus der Gegenwart (er)lösen, um Ressourcen und Spielraum für die Schaffung der Basis einer neuen und lebenswerten Zukunft zu schaffen“? Geht denn das überhaupt? Ja, es ist möglich, wie uns die Vergangenheit lehrt, denn diese Transformation in eine neue Dimension der Zukunft ist ja per se nicht neu, nur noch nicht in diesem Kontext dagewesen. Es ist ein Zusammenspiel vieler Faktoren, wie auszugsweise
- das Bewusstsein, dass wir Alle mit unterschiedlichen Voraussetzungen aus der Vergangenheit in dieser Gegenwart leben
- dass wir unterschiedliche Sichtweisen und Bedürfnisse in der Gegenwart haben, die es zu respektieren gilt
- dass wir unterschiedliche Sichtweisen und Einschätzungen hinsichtlich der aktuellen Gegenwart und der „schönen, neuen Zukunft“ haben, die auf den aktuellen Transformationsprozess einen massiven Einfluss haben
- dass es Investitionen gebraucht hat, um diese lebenswerte Gegenwart zu erschaffen, und es auch diese für eine schöne neue Zukunft braucht
- dass eine Transformation im Sinne einer radikalen Veränderung zwar durch eine Notwendigkeit ausgelöst und in Schwung gebracht wird, aber deren Vorzeichen schon längst sichtbar waren, und die Umsetzung und Verankerung in eine stabile neue Zukunft ein Prozess ist, der Zeit benötigt, Bestehendes teilweise vernichtet, um Platz für Neues zu schaffen sowie
- ein Prozess ist, der unter anderem Mut, Zeit, Investitionen, Geduld, Beharrlichkeit und Zuversicht brauch, sowie die Resilienz, mit Gegenwärtigem und Vergangenem schon jetzt abzuschließen, bevor die Früchte des schönen Neuen geerntet werden können
- …
Es geht immer weiter, aber natürlich nicht wie die Achse der Pentalogik als Gerade dargestellt scheinend, sondern wellenförmig. Es liegt daher an jedem Einzelnen von uns, ob wir uns gegen die Wellen des Meeres stemmen wollen, oder lernen, die Wellen zu surfen. Dasselbe gilt auch für Arbeitsorganisationen, wiewohl es hier ungleich schwieriger ist, die Bedürfnisse der einzelnen unter dem Sinn und Zweck der Organisation zu vereinen, und gemeinsam eine sinnstiftende und nützliche Zukunft der Gesamtorganisation auf Basis der vorhandenen Kernkompetenzen zu gestalten.
Mehr dazu in unserem nächsten Beitrag Teil 3 der SYSTHAT Pentalogik „Adaptive Strategien in volatilen Zeiten“.
Gerne unterstützen wir Sie bei Ihren Herausforderungen als Personen und Organisationen – wirksam, effizient und zukunftsorientiert. Wir freuen uns auf Sie!
Let’s SYSTHAT!