Die systemisch-konstruktivistische, kybernetische Haltung zur wirksamen Bewältigung von Transformationsphasen.

Ansichtssache: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ (Albert Einstein)

Wenn Ihnen bereits das Lesen des Headers und des Untertitels Stirnrunzeln bereitet, oder Sie mit den Worten nichts anfangen können, sind Sie bei diesem Blog ganz richtig und vermutlich in bester Gesellschaft. Erlauben Sie sich und mir vielleicht trotzdem ein paar Minuten ihrer geschätzten Aufmerksamkeit, um dieses brisante Thema im Ansatz vereinfacht darzustellen, damit diese Perspektiven Ihnen vielleicht im Alltag beim Bewältigen komplexer Situationen helfen können.

Perspektiven und Begrifflichkeiten. Theorien & Ansätze gibt es viele – welche davon „richtig“ oder „falsch“ sind, ist für mich eine Kategorisierung und Wertung, die ich mir nicht anmaße. Nach meinem persönlichen Verständnis ist die Theorie der Kybernetik nach Norbert Wiener, früherer Professor für Mathematik am Massachusetts Institute of Technology (MIT), zwar demnach eine „alte“ Theorie, jedoch so zeitgemäß wie nie zuvor. Das Wort Kybernetik selbst stammt vom altgriechischen „Kybernetes“ ab, was so viel bedeutet wie „Steuermann“, und bereits von Plato für Vieles rund um das Thema „Lenkung durch den Staat“ benutzt wurde. In einfachen Worten beschrieben – was der Buchtitel einer seiner bedeutenden Schriften aus dem Jahr 1949 „Cybernetics: Or Control and Communication in the Animal and the Machine“ aussagt – müsste man den 2002 verstorbenen britischen Kybernetiker Stefford Beer zitieren: „People want ten words – you can’t say it.“ Einen Versuch der Beschreibung in wenigen Worten könnte man so starten, dass sich Norbert Wiener mit dem Problemkreis der Regelung und Informationsverarbeitung in technischen und organischen Systemen auseinandersetzte und die Kernfrage ausarbeitete, wie Komplexität begriffen und bewältigt werden kann. Diese Frage stellen wir uns nach 70 Jahren noch genauso…

Die Kybernetik gilt auch aufgrund ihrer vielfältigen Anwendbarkeit als Brücke zwischen den Wissenschaften. Bekannt wurde der Begriff darüber hinaus durch die zwischen 1946 und 1953 abgehaltenen zehn zukunftsweisenden „Macy Konferenzen“ in New York. Dies war eine Zusammenkunft zahlreicher Wissenschaftler diverser Disziplinen wie Psychologie, Physik, Neurophysiologie, Mathematik, Biologie, Anthropologie, etc., um die neue wissenschaftliche „Meta-Disziplin Kybernetik“ sowie eine gemeinsame Sprache zu definieren. Damals war interdisziplinäre Zusammen-arbeit für viele der Gelehrten eine neue, inspirierende Erfahrung. Dadurch konnte Größeres entstehen, und auch die wissenschaftliche Zusammenarbeit von Amerika und Europa gefördert werden. So beschrieb es der Wiener Physiker Heinz von Foerster, welcher bei den Konferenzen sein Buch „Das Gedächtnis – eine quantenmechanische Untersuchung“ präsentierte. Foerster verstand die Kybernetik als eine Perspektive und Art des Herangehens an eine Klasse an Problemen, indem man Zusammenhänge sucht und nicht Unterschiede herausstellt. Betrachtet man heute diverse Fragestellungen und Problemfelder – vom Klima über das politische Geschehen bis hin zur Pandemie – so stellt man fest, dass das Analysieren von Zusammenhängen und Wechselwirkungen zur Erfassung der Komplexität immer noch ausgeblendet wird. Lieber sucht man sich einen Parameter, und manipuliert diesen solange es geht – das scheint einfacher.

Gegen Ende der Macy-Konferenzen schrieb Foerster ein Buch mit dem Titel „The Human Use of Human Beings“ über die auftretenden Probleme bei der Automatisierung der menschlichen Gesellschaft, insbesondere über philosophische, religiöse und ethische Überlegungen zur zukünftigen Entwicklung der Kybernetik. Er setzte sich bereits damals mit der Frage auseinander, ob künftige Maschinen klüger seien als ihre Erbauer, und ob Maschinen die Menschen beherrschen werden. Eine weiterhin brandaktuelle Fragestellung.

Als Begründer der Management-Kybernetik durch Anwendung der Kybernetik auf jede Art von Organisationen und ihr Management gilt Stefford Beer.  Er hat nicht nur die Naturgesetze der Lebensfähigkeit von biologischen und sozialen Systemen beschrieben, sondern auch die prinzipiell vorhandene gemeinsame Natur aller natürlichen und von Menschen geschaffenen Organisationen, ihrer Komplexität, der Konsequenzen daraus und ihrem folgerichtigen Management definiert. In den 1970er Jahren versuchte er, Chile in einen kybernetischen Staat zu wandeln, um damit dort Frieden und Wohlstand zu stiften. 

Komplexität beherrschen.  Hier sind wir schon beim nächsten häufig verwendeten Begriff. Komplexität aus dem Lateinischen abgeleitet (complexum/complecti) bedeutet so viel wie „umschlingen, umfassen, vielschichtig bzw. verflechten“. Jedenfalls ist komplex damit das Gegenteil von einfach im Sinne von abgrenzbar und überschaubar. Peter Ulrich, Wirtschaftswissenschaftler, fasste Komplexität wie folgt zusammen: Die  Komplexität einer Situation ist mit der Vielfalt der einwirkenden Faktoren und dem Ausmaß ihrer gegenseitigen Interdependenzen charakterisiert, und diese als Merkmal schlecht strukturierbare Entscheidungssituationen. Kurz gesagt: Wer Komplexität erfassen und beherrschen will, muss sich mit den Parametern in einem System und den entsprechenden Abhängigkeiten, Wechselwirkungen und Einflüssen auseinandersetzen, um valide Entscheidungen treffen zu können. 

Die Komplexität eines Systems steigt aber mit der Anzahl an Elementen, der Anzahl an Verknüpfungen zwischen diesen Elementen sowie der Funktionalität und Unüberschaubarkeit dieser Verknüpfungen – und das funktioniert nicht linear (was wir spätestens mit der aktuell vorherrschenden Pandemie verstanden haben sollten). Damit ist klar, dass die Komplexität in der Steuerung und Führung von Systemen durch Einflüsse wie Internationalisierung, Informations- und Kommunikationstechnologien, etc. massiv zugenommen hat, und Führung mit altbewährten Methoden oftmals nicht (mehr) ausreichend möglich ist. Immer mehr müssen wir IT-gestützt erfassen und abbilden, deutliche mehr prozesshafte Interaktion und Steuerung ist in Arbeitsorganisationen nötig. Und wir müssen uns unweigerlich dem Verstehen des Funktionierens widmen – allerdings eine komplexe Angelegenheit!

Systemisch und konstruktivistisch. Wenn Sie es bis hierher geschafft haben, diesen Artikel zu lesen, so werden Sie feststellen, dass der Begriff System häufig gefallen ist. Grundsätzlich geht der Systembegriff auf  Ludwig von Bertalanffy als einen der bedeutendsten theoretischen Biologen und Systemtheoretiker des 20. Jahrhunderts zurück, und damit auch auf den bereits erwähnten Zeitabschnitt der Macy-Konferenzen. Er versuchte mit der allgemeinen Systemtheorie als interdisziplinäre Betrachtungsweise grundlegende gemeinsame Gesetzmäßigkeiten in physikalischen, biologischen und sozialen Systemen zu finden und darzustellen. Prinzipien einer Klasse von Systemen wie z.B. Komplexität, Gleichgewicht, Rückkopplung und Selbstorganisation sollten auch in anderen Systemen gefunden werden. Damit ist gemeint, dass Prinzipien die z.B. in Familiensystemen oder Arbeitsorganisationen vorherrschen auch z.B. in Staaten vorherrschen. Diese Systemtheorie hat sich wie die meisten Theorien weiterentwickelt bzw. spezifiziert in z.B. Chaostheorien, Kommunikationstheorien, etc. Zahlreiche bekannte Namen sind hier stellvertretend zu nennen wie z.B. Maturana oder Varela, die sich mit der Autopoiesis von Systemen beschäftigten (also der Selbsterschaffung und -erhaltung von Systemen) wie auch Luhmann mit seiner soziologischen Systemtheorie neben dem Systemfunktionalismus in Systemen, in welchen Menschen interagieren. Luhmann bezeichnet die Gesellschaft als das umfassendste System, welches sich in Funktionssysteme wie z.B. Wirtschaft, Politik, etc. ausdifferenziert. Durch Anwendung von Unterscheidung – z.B. Recht/Unrecht in Rechtssystemen – beobachten diese offenen Systeme, und durch „Codes“ (eigene Sprache, spezielle Kleidung, besondere Rituale, etc.) schließen sich diese. Man kann diese Phänome auch gut in Arbeitsorganisationen beobachten, wo z. B. eine spezielle Sprache und Begrifflichkeiten vorherrschen, welche dieses System ein Stück „geschlossen“ machen, womit es für z.B. neue Mitarbeitende zu Beginn schwierig ist, sich dort zurecht zu finden.

Wenn Sie sich jetzt fragen, ob diese dargestellte Wirklichkeit wirklich so ist, dann stellen Sie genau die gleiche Frage wie Paul Watzlawick, ein verstorbener österreichischen Kommunikationswissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Sein Schwerpunkt und Beitrag zum Systemverständnis lag auf dem Bereich Wirklichkeit als Ergebnis von Kommunikation und Beziehungen in Systemen bzw. auch auf dem sogenannten „Konstruktivismus“ als Erkenntnistheorie. Bekannte Erkenntnisse in menschlicher Kommunikation sind unter anderem, dass wir nicht „nicht kommunizieren“ können und Kommunikation immer einen Sach- und Beziehungsaspekt hat, wobei letzterer ersteren bestimmt. 

Spätestens jetzt ist an dieser Stelle klar: Wir einzelnen Menschen sind per se ein sozial-komplexes System, und durch unsere Interaktion in und mit verschiedenen Systemen – ob wir Kind/Eltern/Partner sind, ob wir Mitarbeitende/Vorgesetzte sind, ob wir Einwohnende oder Touristen sind – steigert sich die Komplexität, die wir zu bewältigen haben. Das gelingt uns einmal besser, ist ein andermal schwieriger, und in Transformationsphasen durch das hohe Tempo und die oftmals fehlende Zielperspektive besonders herausfordernd. Das ist systemisch so.

Auf den Hund gekommen. Organisationen als sozial-komplexe Systeme verstehen.

Die Lösung liegt in der Erlösung. Erlösen wir uns also von unseren teils vorherrschenden Allmachtsfantasien, dass wir Alles/Jeden beherrschen können und unter Kontrolle haben, dass wir ständig global und ganzheitlich agieren können, ob im Bereich Gesundheit oder Klima, dass wir Alles verstehen und für jedes Problem eine Lösung haben, oder nur unsere persönlichen Paradigmen richtig sind und damit Allgemeingültigkeit haben müssen. Noch dazu sind wir in vielen Bereichen „betriebsblind“ und auch autopoietisch, also systemerschaffend- und erhaltend unterwegs. Das sieht man in Transformationsphasen besonders gut, wie z.B. aktuell beim Paradigmenwechsel vom Kapitalismus als vorherrschende Konstante seit dem zweiten Weltkrieg hin zu welchem neuen Paradigma auch immer (Sozio-Ökologie, etc.).

Ein bekannter Ausspruch sagt: „Richtig gut kann man nur mit dem Herzen sehen!“ Dem möchte ich noch hinzufügen: …und aus der Distanz. Es ist hinlänglich bekannt, dass man „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen kann“.  Das geht nur aus der Distanz z.B. von einem Berg aus gut. Deshalb ist es auch für Arbeitsorganisationen sehr schwierig, Transformation/Change selbst intern zu bewältigen, denn einerseits agieren darin Menschen in Eigentümer-/Führungs-/Expertenfunktionen, welche das System in der Vergangenheit erschaffen haben und erhalten möchten, aber vielleicht „das Übermorgen“ in der Organisation aktiv nicht mehr mitgestalten werden. Gleichzeitig agieren darin Menschen mit verschiedenen Motiven, sei es die persönliche Selbstverwirklichung, Arbeit als Mittel zur Wertschöpfung für die Finanzierung des persönlichen Lebensunterhalts, etc. Alle Menschen als sozial- komplexe Systeme in verschiedenen Rollen und Funktionen sind Teil dieses Systems – daher ist es de facto unmöglich, das „ganze System Unternehmen“ als inneres Systemmitglied neutral von außen zu betrachten und rein rational umzugestalten oder zu transformieren. Das funktioniert nicht oder nur bedingt. Und darüber hinaus hat jedes sozial-komplexe System eine relevante Umwelt, die es in seinem Sein und Handeln beeinflusst. Es herrscht also noch eine Wechselwirkung mit der relevanten Umwelt wie z.B. mit den Lieferanten „von außen“ oder den Verfügbaren Rohstoffen oder aber auch politischen Regularien bis hin zu logistischen Herausforderungen.

Um das Funktionieren bzw. die Eigenschaften, Wechselwirkungen oder Kommunikationsmechanismen in Systemen zu erfassen – sei es im Paar-/ Familienbereich, in Arbeitsorganisationen, in Vereinen, etc. – sind Beobachten, Beschreiben und Erfragen die Mittel der Wahl. Das gelingt mit Hilfe von außen durch einen unbeteiligten Beobachter in verschiedensten systemischen Gestaltungsformen und agilen Methoden wie z.B. mittels

– Zukunftsworkshops & Strategieforum
– Kundennutzenanalysen & Kernkompetenzen
– Systemdiagnosen und „Funktionalcheck“ der Organisation
– Kultur- und Wertedesigns
– Mediation und Konfliktregelungsdesigns
– Executive Sparring und Managementtrainings
– u.vm.

Welche Dimensionen dabei zu berücksichtigen sind und wie das in der Praxis funktionieren kann, erkläre in unseren nächsten Blogs der fünfteiligen Serie „Systhat-Pentalogik„. Wöchentlich mit System – Let’s SYSTHAT!

Kommentar verfassen